Die Kinder waren immer größer und die
Zimmer immer kleiner geworden, als wir dann
später ein neues Zuhause fanden. Bis zur Wende
verlief alles im gewohnten Stil. Man sagte nicht
zu allem Ja, war aber auch nicht besonders laut
beim Neinsagen. Die paar Nischen und Freiräume,
die einem vergönnt waren, hatte man sich
gemütlich eingerichtet. Manchmal träumte man
auch von anderen und besseren Zeiten. Die
Vernunft sagte einem aber, daß es sich nicht
lohnt, diesen Träumen blindlings hinterher zu
rennen, um am Ende doch nur Verlierer zu sein.
Für das Risiko wäre der Einsatz einfach zu hoch
gewesen. Unter diesen Gegebenheiten versuchten
wir also, das Beste aus unserem Leben zu machen.
Und wir lebten glücklich und zufrieden. 1989 wurden dann viele aus ihren
Träumen gerüttelt. Die meisten hatten gerade
von besseren Zeiten geträumt und es war nicht
schwer, sie wach zu bekommen. Sie standen sofort
auf, um gemeinsam kundzutun: "Wir sind das
Volk!" Andere haben den Wecker zwar gehört,
sich aber erst noch einmal im warmen Bett wenden
müssen, um zu überlegen, ob sie zuerst mit dem linken
oder mit dem rechten Bein herauskriechen
sollten. Einige aber waren so sehr im Schlaf
versunken, daß sie das Rütteln überhaupt nicht
mitbekamen und bisweilen heute noch tief und fest
von guten alten Zeiten träumen.
Das nannte man dann später "Die
Wende" oder "Die
friedliche Revolution" !
Danach wurde alles anders und
vieles auch besser, aber nicht einfacher. Wir
konnten unsere Nischen verlassen und lernten neue
Freiräume kennen. Wir lernten, alte Grenzen zu
vergessen und uns bis an neue Grenzen
heranzuwagen. Anfangs wußten wir eigentlich noch
gar nicht, wie man sich dabei richtig
zurechtfinden sollte. Bald wurde es dann zur
Gewißheit, daß man nicht alle neuen Angebote
und Freiheiten für sich in Anspruch nehmen
konnte, aber es sehr schön war, diese nun
endlich auch zu haben! Richtig "wenden"
mußten wir uns dabei nie, denn unsere alte
Devise: "Unter diesen Gegebenheiten, das
Beste aus unserem Leben zu machen!" hatte
noch immer ihre volle Gültigkeit.
1992 durften wir uns dann
erneut entscheiden. Es ging wieder einmal um ein
Angebot, Zeit und Geld in die Zukunft zu
investieren. Diesmal war es die Qualifizierung
zum Industriemeister. Die Bedingungen waren
eindeutig: Keine Vorbehalte gegenüber
politischen und weltanschaulischen
Grundüberzeugungen! - Faire Teilung der
bevorstehenden Belastungen zwischen Unternehmen
und Angestellten! - Klare Aussichten für den
späteren Einsatz! Das waren lohnenswerte und
realistische Zielvorstellungen! Das
"Ja-Sagen" fiel deshalb nicht schwer.
1994 war ich dann mittlerweile
schon gute 40 Jahre alt, als ich den
Meisterabschluss ohne nennenswerte
Schwierigkeiten bestand. Um eine betriebliche
Einsatzmöglichkeit als Meister brauchte ich mich
zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr zu kümmern,
da das bereits 1992 -kurz nach Antritt der
Qualifizierungsmaßnahme- im gegenseitigen
Einvernehmen geregelt wurde. Und wieder einmal
freute ich mich, daß ich noch Reserven hatte!
Langsam wurde auch im Betrieb
die "Wende" wahrgenommen. Neue Technik
und neue Organisationsformen wurden eingeführt
und daraufhin wurde nach Vorstellungen von
Besserwissenden lustig hin und her strukturiert.
In den neuen Strukturen fand ich mich dann
schließlich 1998 als "Techniker für
Schutztechnik" wieder.
Die Reserven begann ich mir nun
langsam einzuteilen: Ein bißchen für den Beruf,
ein bißchen für die Familie, einen Teil für
mich selbst und einen anderen Teil für die
Erwartungen der lieben Mitmenschen.
Und was die lieben Mitmenschen
so alles erwarten! - Mal ist es ausgesprochen
viel, mal ist es ausgesprochen wenig! :
- Konnte man irgengwann
einmal jemandem helfen, erinnert sich dieser gern
daran und hofft nun, es könnte immer so sein!
- Hat man sich in seiner
Hilflosigkeit irgendwann einmal jemandem
anvertraut, meint dieser nun, er hätte fortan
Anspruch auf uneingeschränkte
Vertrauensseeligkeiten.
- Wollte oder konnte man
irgendwann einmal jemanden nicht gleich beim
ersten Mal verstehen, glaubt jener nun, man wolle
seine Meinung überhaupt nicht mehr hören!
Ich verstand, daß auch die
lieben Mitmenschen einen Anspruch auf
Selbstverständlichkeiten haben und daß es gut
war, nicht gleich alle Reserven bei der
erstbesten Gelegenheit aufgebraucht zu haben.
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